„Am ersten Tag wäre ich am liebsten wieder gefahren“
Ein Erfahrungsbericht von Mandy Falke: 10 Tage Meditations-Retreat
Bei der Ankunft müssen wir unsere Handys abgeben. Alle wussten vorher, worauf sie sich einließen und Besuchern eines Meditations-Retreats kann man sicher eine gewisse Affinität zu Stille und Achtsamkeit unterstellen. Dennoch tippen Menschen um mich herum hastig und mit gebeugtem Kopf letztmalig auf ihren Geräten herum. Auch ich zögere das Abgeben des Handys heraus. Es wird schließlich für die nächsten 10 Tage keine Möglichkeit mehr für Kontakte nach außen geben.
Prompt fange ich an, meine Kinder zu vermissen. Diejenigen, die mich gestern noch an den Rand des Wahnsinns trieben. Ob es ihnen wohl gut geht, frage ich mich bereits eine Stunde, nachdem der Kontakt gekappt wurde. Das kann ja heiter werden. Meine Zimmermitbewohnerin heißt Sara. Soviel konnten wir noch austauschen bevor wir in die 10 Tage währende „edle Stille“ eintraten: Wir dürfen nicht sprechen und auch nicht mit
Blicken oder Gesten kommunizieren. Ein Jeder soll seinen eigenen Prozess ohne Einflüsse Dritter durchlaufen können. Aus diesem Grund sind auch Medien jeglicher Art verboten. Es darf kein Sport gemacht werden, singen und tanzen sind verboten, ebenso lesen. Räucherstäbchen sind nicht erlaubt und auch nicht stark duftende Kosmetikprodukte. Eigentlich ist nur meditieren erlaubt. Und zwar insgesamt zehn Stunden täglich.
Tag 1:
Was zur Hölle hat mich eigentlich dazu getrieben, hier teilzunehmen? Ich möchte abreisen. Und zwar am liebsten sofort. Der Gong auf dem Innenhof wird um 04:00 Uhr in der Früh geschlagen. Zeit zum Aufstehen, damit man um 04:30 Uhr pünktlich mit 80 weiteren Personen in der Meditationshalle sitzen kann.
„Atmet und spürt euren Atem in der Nase und in dem Bereich vor der Nase“, so lautet die Anweisung für den ganzen Tag. 10 Stunden nichts anderes tun, als bei Stille zu verharren und die Konzentration auf den Atem zu richten. Meine Knochen knacken, als ich um 06:30 Uhr
Richtung Frühstücksraum gehe.
Abends wird ein Vortrag eines indischen Lehrers vom Band abgespielt:
„Euer Kopf quatscht und quatscht, den ganzen Tag. Ihr habt es heute sicher erlebt. Er redet über die Vergangenheit und über die Zukunft, fortwährend. Die Gegenwart mag er meist nicht. Und das Schlimmste ist: Ihr glaubt euren Gedanken. Und jetzt wollt ihr bestimmt nach Hause fahren – und wer sagt euch das? Eure Gedanken? Seid ruhig und lauscht, was sich darunter befindet.“
Ich entscheide mich, es mit Hingabe zu versuchen. Die dort gelehrte Vipassana-Technik ist neu für mich und unterscheidet sich grundlegend von anderen Meditationstechniken. „Andere Methoden können euer Leben vielleicht mit einem schönen glitzernden Lack überziehen – diese Methode geht jedoch in die Tiefe“, heißt es.
Tag 2:
Es ist mir etwas peinlich, aber zuhause tippe ich beim Essen ständig am Handy herum; lese Nachrichten oder scrolle durch soziale Netzwerke. Entweder das, oder ich esse im Beisein meiner drei Kinder. So oder so bin ich gedanklich nie beim Essen, sondern abgelenkt. Hier sitze ich nun vor meinem mit Wasser angerührten, ungesüßten Getreidebrei und starre ihn an. „Wow, ist das langweilig zu essen“, beschwert sich mein Verstand und schiebt ein „eigentlich traurig, dass du das so empfindest“ hinterher. Meine Gedanken überschlagen sich nach einem einfachen Essen ohne Ablenkung und ich komme zu dem Schluss: Ich muss ein totaler Freak sein. „Der Geist ist wie ein wildes Tier, was gezähmt werden muss“, heißt es im Vortrag. „Dann kann er euch ein wundervoller Freund sein.“
Nach der Mediation versuche ich aufzustehen. Meine Gelenke funktionieren nicht mehr richtig. Ich ziehe humpelnd ein Bein hinter mir her.
Tag 3:
Wie geht es den anderen während der Meditation wohl gerade? Ist ihnen auch so langweilig? Ich öffne heimlich die Augen: Alle sitzen wie Buddha-Statuen kerzengerade vor mir und scheinen sich in tief meditativen Zuständen zu befinden. Mein Rücken und meine Füße schmerzen – ebenso wie Körperstellen, von denen ich gar nicht wusste, dass sie weh tun können. Ein Mann auf der anderen Seite des Raumes wippt hin und her, beugt sich kopfüber und küsst den Boden. Was ist los mit ihm und warum langweile ich mich einfach nur?
Heute sollen wir das Gebiet oberhalb der Oberlippe und dem Beginn der Nasenlöcher beobachten: Kribbelt es dort? Ist es kalt? Warm? Spannt es oder ist es dort vielleicht trocken? Nach einigen Stunden kann ich den Herzschlag in meinem Nasenloch wahrnehmen. Das ist irgendwie cool und zeitgleich langweilig.
Nach dem Mittag gehe ich eine Runde auf dem abgesteckten Gelände, welches wir nicht verlassen dürfen, spazieren. Ein Waldstück von etwa 75 Meter Länge und 25 Meter Breite steht uns zur Verfügung. Davor erstreckt sich eine herrliche Hügellandschaft. Nebelschleier liegen über den Abhängen und eine kleine Straße schlängelt sich aus einem Kiefernwald heraus zwischen Kuhweiden entlang. Normalerweise würde ich jetzt das Handy zücken und ein Foto machen, was ich mir nie wieder ansehen würde. Nun schaue ich es mir einfach an und habe das Gefühl, dass mir dabei etwas fehlt. Wie unangenehm zu erkennen, welch wesentliche Rolle Technik im Alltag offenbar spielt.
Um 15:00 Uhr setze ich mich heute zum fünften Mal zur Meditation hin. Ich will schreien. Weglaufen. Nach Hause. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Die Zeit während der Mediationssitzungen scheint kein Ende zu nehmen. Wusstet ihr, dass Fenchel auf Italienisch „finocchio“ heißt? Ich weiß das, weil es auf dem Teebeutel steht, den ich während des Abendbrots gelesen habe. Mehrmals. Ich beherrsche das Wort jetzt auch in drei weiteren Sprachen. Ja, mein Abendbrot ist Fencheltee. Hier wird kein Abendessen angeboten, weil es sich mit leerem Magen leichter meditiert.
Ich setze mich wieder zum Meditieren hin. Jede Position, die annehmbar erschien, wird nach spätestens 15 Minuten starrem Sitzen zur Tortur. Ich bekomme blaue Flecken auf den Füßen. Gefühlte Schritte heute in Richtung Erleuchtung: -2.
Tag 4:
Sonntag, 04:00 Uhr morgens. Nach dem Gong schleppe ich mich in die Gemeinschaftsduschen, dusche kalt und mein Körper sackt in der Meditationshalle regelmäßig vor Müdigkeit weg. Immerhin der Geist war willig.Zum Frühstück gibt es wieder Brei. Ich habe schlechte Laune. Gebt mir ein Handy, eine Zeitung, einen Gesprächspartner – irgendwas, aber ich möchte bitte nicht mehr allein mit mir sein. Das Gedankengeplapper geht wieder los: Ob Daniela Katzenberger noch ein zweites Kind bekommen wird, ist dabei noch die sinnvollste Frage, die mir meine Gedanken
zuraunen.
„Denkt daran, dass ihr zwar Gedanken habt, aber nicht eure Gedanken seid. Werdet zum Beobachter eurer Gedanken“.
Draußen beobachte ich die Vögel, wie sie frei und unbeschwert über die Landschaft fliegen. Sie denken nicht über Vergangenes nach und die Zukunft macht ihnen keine Sorgen. Dem Menschen wurde zwar dieser fabelhafte Verstand und eine außergewöhnliche Intelligenz gegeben, aber er hat einen hohen Preis dafür zu zahlen: Nur selten erlebt er das, was man völlige Präsenz im Moment nennt. Stattdessen verfolgt er ständig Ziele, die sich regelmäßig weit weg von der Gegenwart befinden: Bald ist es Zeit zum Essen, bald ist Feierabend, bald ist die Woche vorbei, bald ist Urlaub, bald gehe ich in Rente. Kann der jetzige Moment denn niemals genug sein? Muss man immer mehr und mehr wollen, bis man irgendwann am Ziel
angekommen ist? Moment, welches Ziel überhaupt? Die Menschen um mich herum, praktizieren Achtsamkeit: gehen besonnen den Graspfad
entlang, essen achtsam, gehen achtsam in die Toilettenkabine. Wirke ich nach außen auch so? Innerlich tobt alles in mir. Hätte ich gewusst, wie hart das hier wird, ich wäre nie hergekommen. Ich stelle ernsthafte Überlegungen an, wie ich mein Handy zurückbekommen könnte. Mein Geist ist ein Entertainment-Junkie. Diese Erkenntnis tut weh.
Tag 5:
Vortrag:
„Ihr seid angehalten, dass Gebiet unter eurer Nase immer schärfer wahrzunehmen. Eure Körperwahrnehmung soll geschult werden, bis ihr auch das letzte Atom eures Körpers wahrgenommen habt. Dann werdet ihr feststellen, dass alles nur Schwingung ist und es feste Materie gar nicht gibt. In dem Moment, in dem eine Schwingung entsteht, vergeht sie auch schon wieder. Entstehen und vergehen – daraus besteht das Leben. Selbst ein Baby trägt schon den Funken der Vergänglichkeit in sich. Mithilfe dieser Technik könnt ihr lernen über das Leid hinauszugehen. Auch Wissenschaftler fanden längst heraus, dass alles Schwingung ist. Sie erfassten es aber mit ihrem Intellekt. Die Vipassana-Meditation ist eine Erfahrungswissenschaft. Es ist etwas anderes, die Welt mit dem Verstand zu erfassen, als die Wirklichkeit selbst zu erfahren. Etwas vollkommen anderes. Erklärt einem Blinden, was die Farbe Weiß ist. Er wird es nicht verstehen können, solange er sie nicht sehen kann.“
Ich mag die Vorträge. Sie verstören mich aber auch. Will ich das alles überhaupt erfahren? „Wenn ihr weiter meditiert, wird sich alle Anhaftung auflösen, auch die Anhaftung an das Leid. Was bleibt ist reine Liebe zu dem Lebe, wie es eben ist.“ An meinem Knöchel ist nach einer Meditationsstunde faustgroßer blauer Fleck entstanden und der Rest des Körpers fühlt sich zumindest so an, als würde er ebenso aussehen.
Tag 6:
Gerade habe ich die Morgenmeditation hinter mir. Ein Schritt weiter in Richtung Frühstück. Danach kann ich dann auf das Mittag warten. Warten, warten, warten. Worauf denn eigentlich? Ich gehe an einem Schmetterling vorbei. Er denkt sich doch auch nicht ständig „Oh, hoffentlich klaut die dicke Hummel da hinten mir nicht meine Pollenkrümel“ oder „Ach man, wann bin ich endlich mit der letzten Blume für heute fertig?“. Es scheint eine rein menschliche Besonderheit zu sein, dass wir uns von unseren Gedanken derart dominieren lassen.
„Anhaftung und Verlagen sind die Wurzel für Leid. Man will immer mehr. Ein Verlangen jagt das nächste. Ein Begehren zu haben heißt immer auch, dass man mit dem jeweiligen Moment nicht zufrieden ist, sondern etwas anderes möchte. Die Menschen suchen ihr Glück immer im
Außen, anstatt sich in ihrem Inneren auf die Suche zu begeben. Ein Moment des wahren Erkennens, entschädigt für ein ganzes Leben voller Leid“, so heißt es im abendlichen Vortrag. „Es bringt nichts, mit der Realität, wie sie eben ist, zu streiten. Dann leidest du“.
Ist es nicht besser, wenn man seine Fesseln gar nicht spürt, frage ich mich. Da draußen laufendoch nicht nur unglückliche Menschen herum. Viele scheinen zumindest glücklich. Ist dieswirklich nur oberflächliches Glück und sehnen wir uns in Wahrheit nach genau dem, was hier
propagiert wird?
Etwas passiert: Ich spüre beim Meditieren plötzlich meinen Herzschlag in meinem kleinen Finger, im Ohrläppchen, überall im Körper gleichzeitig. Mein Atmen fängt an automatisch zugehen. Es fühlt sich an, als wäre gar nicht ich diejenige, die atmet, sondern als würde das
Universum durch mich durchatmen. Ok, das klingt jetzt abgefahren.
Tag 7:
Auf dem Weg lief eine Schnecke entlang. Ich habe mich vor sie hingekniet und sie lange beobachtet. Sie war echt schnell und dann hat sie ein Blatt angeknabbert. Habt ihr schon mal eine Schnecke beim Fressen beobachtet? Ist eine Schnecke eigentlich glücklich? So ohne Termine, Verpflichtungen, Beziehungsstreitigkeiten und Selbstwertproblemen? Nach einer Weile bin ich aufgestanden und weitergegangen. Auf dem Rückweg bin ich aus Versehen auf sie draufgetreten.
Nachmittags gehe ich wieder spazieren. „Ich möchte anders sein, als alle anderen“, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Ich meine nämlich, nur dann der Liebe anderer wert zu sein, wenn ich mich von der Masse abhebe; wenn ich besonders bin – besonders kreativ, besonders leidend, besonders hilfsbereit. Selbsterkenntnis durch die Entziehung äußerer Reize. Neid, Scham, Angst. All diese Gefühle reihen sich als Begleiter ein, die mich hier Schritt um Schritt begleiten. Rasch gehe ich an der zauberhaften Hügellandschaft vorbei zurück in die Meditationshalle. Ich will heute nichts Schönes mehr sehen.
„Alles, was wir tun, ist wichtig und wird in unserem Unterbewusstsein gespeichert. Jedes gesprochene Wort, jeder gedachte Gedanke und jede vollzogene Tat und die dahinterstehenden Absichten. Nichts ist unwichtig.“
Tag 8:
Im Morgenhimmel verlaufen die Farben. Die Sonne ist noch nicht komplett aufgegangen. Plötzlich nehme ich in der Luft etwas wahr. Es sieht aus wie unvorstellbar kleine Seifenblasen, die durch die Luft tanzen. Werde ich wahnsinnig oder werden meine Sinne schärfer? Ist das real, was ich gerade sehen kann? Was ist Realität überhaupt und wer definiert diese?Am Rande des Tals liegt ein Häuschen umgeben von Bäumen und Abhängen. Am liebsten würde ich später einmal dort hinfahren und die dort wohnenden Menschen fragen, ob sie glücklich sind. Es sieht aus wie ein Häuschen, in dem man gut glücklich sein kann.
Die etwa 70jährige Lehrerin spricht über Erleuchtung. „Das ist hier nicht das Ziel“, sagt sie. „Wir sind hier auf einem 10-Tages-Kurs. Das theoretische Wissen könnt ihr hier erlernen und erste praktische Anleitungen. Danach müsst ihr den Weg selbst weitergehen. Schaut einfach, was ihr von hier mitnehmen könnt und was sich in eurem Alltag, manchmal auch auf subtile Weise, verändert. Man braucht nicht gleich Mönch zu werden.“
Das Schönste, was ich heute gesehen habe, war ein buntes Herbstblatt. Ich habe es sehr lange betrachtet. War der Herbst wirklich schon immer so schön? Wir sollen ab jetzt keine Pausen mehr vom Meditieren machen. Wenn wir essen, sollen wir essen. Wenn wir duschen, sollen wir duschen. Alles kann Meditation sein, wenn wir achtsam dabei sind. Meditieren bedeutet einfach, sich des gegenwärtigen Moments voll bewusst zu
sein. Auch beim Einschlafen und beim Aufwachen sollen wir meditieren. „Aber bitte setzt euch nicht nachts zum Meditieren hin.“ Ich kann mich gerade noch beherrschen.
„Das Universum könnt ihr nicht intellektuell erfassen“, wird uns gesagt, „aber ihr könnt auf jede beliebige Frage die Antwort innerhalb eurer Körperstruktur finden.“
Tag 9:
Es kribbelt während der Meditation in den Armen und Beinen. Vergleichbar ist dies mit eingeschlafenen Füßen, nur ohne die negativen Begleiteffekte. Einmal kribbelt es auch auf meiner Nase. Es ist ein Käfer. Ich halte es zuerst für eine dieser neuartigen Erscheinungen
beim Meditieren und bemerke ihn erst später.
„Das Wichtigste ist, dass ihr euren Gleichmut schult“, erläutert die Lehrerin. „Wenn ihr das Maß eures Erfolges erfassen wollt, dann nicht an besonderen Körperempfindungen, sondern an eurem Gleichmut. Ärgert euch nicht, wenn keine besonderen Empfindungen auftreten und
entwickelt kein Verlangen nach besonderen Empfindungen. Begegnet allem mit Gleichmut.“
Im Waldstück sind über Nacht lauter kleine Spinnennetze entstanden, die am Nachmittag bereits alle wieder verschwunden sind. Was soll das? Es entsteht und vergeht doch so schnell. Ein Gebirge könnte dasselbe über uns Menschen denken, überlege ich. Am Sonnenuntergang kann ich nichts Schönes mehr erkennen. Lieber würde ich auf Wäscheberge und herumliegendes Spielzeug blicken. Das Vermissen meiner Kinder raubt mir
noch das letzte bisschen an Restverstand.
Tag 10:
Ich spreche mit der Lehrerin. Die einzige Person, mit der wir gelegentlich fünf Minuten sprechen dürfen. „Alles kribbelt im ganzen Körper, aber sonst passiert da nichts. Muss das so sein?“ „Sie hätten lieber Ekstase oder angenehme Empfindungen, nicht wahr?“, lächelt sie milde, „Sie wollen etwas Anderes. Sie wollen die Realität anders haben, als sie ist. Und deswegen leiden sie. Eine gute Gelegenheit, ihren Gleichmut zu schulen.“
Nach 4 Stunden durchgehender Meditation komme ich an einem wunderschönen Steinpilz vorbei. Ich beobachte ihn seit einigen Tagen, erst beim Wachsen, nun beim langsamen Vergehen. Vor ihm auf dem Boden sitzend lege ich meine Hand auf ihn. Mich durchfährt ein Kribbeln, was in meinen Händen beginnt und sich im ganzen Körper ausbreitet. Es fühlt sichan, als würde ein Teil meines Bewusstseins mit dem Pilz verschmelzen und eins werden mit dem Waldboden drum herum. Selbst das Vibrieren der Grillen spüre ich tief in meinem eigenen Körper. Das Erlebnis beeindruckt mich und ich verstehe, verstehe plötzlich wirklich, was mit dem Unterschied zwischen intellektuellem Erfassen und Erfahren gemeint ist.
Ab dem heutigen Nachmittag sollen wir resozialisiert werden. Wir dürfen wieder sprechen. Ich stelle fest, dass meine Stimme noch funktioniert und meine Zimmernachbarin nett ist. Weil wir bis spätabends die Worte miteinander austauschen, die wir bisher zurückhalten mussten, bekommen wir viel zu wenig Schlaf.Der Tag danach: Zuhause erwarten mich drei Kinder am Bahnhof und sprechen 4587 Wörter ohne Unterbrechung. Da ist er wieder: Der normale Alltagswahnsinn. Die Welt dreht sich wieder schneller und ich mich mit ihr. Habe ich gerade erst wirklich zehn Tage zehn stunden täglich meditiert? Ok, jetzt erstmal den vollen Wäschekorb leeren, hungrige Kindermünder füllen und ach ja, da war doch was mit dieser Achtsamkeit. Wie schnell man doch wieder in den alten Trott verfallen kann.
Fazit:
Ich habe an diesem Retreat teilgenommen, um mich selbst besser kennenzulernen. Wer bin ich, wenn ich nicht in meiner Rolle als Mutter, Studentin oder Ehefrau stecke? Was bietet uns das Leben eigentlich, wenn wir mal tief unter die Oberfläche schauen? Warum gerät man so schnell in ein Hamsterrad, strampelt sich im Alltag ab und hat dabei diesen Hauch eines Gefühls, das Leben würde ungelebt an einem vorbeiziehen?
Was ich mitgenommen habe, ist auf jeden Fall die Erkenntnis, dass ein Leben sich nicht im Außen, sondern im Inneren schön anfühlen muss.
Ich habe meine Handyzeit mithilfe von Apps mittlerweile limitiert und nutze ab 19:00 Uhr gar keine Medien mehr. Mein kleines eingestaubtes Meditationsbänkchen habe ich auch wieder hervorgekramt. Es steht nun zumindest in einer anderen Ecke. Zuviel Medienzeit und Unachtsamkeit möchte ich künftig auf jeden Fall meiden. Denn was ich während der 10 Tage wirklich vermisst habe, wirklich schmerzhaft vermisst habe, war nicht
mein Handy oder Zerstreuung, sondern meine Kinder und die Menschen, die ich liebe und denen ich künftig mehr Zeit widmen möchte. Mich selbst übrigens eingeschlossen und das war wirklich eine wundervolle Erkenntnis. Manchmal bietet uns das Leben eine neue Chance, um Dinge anders zu machen. Es liegt an uns, sie zu ergreifen.
Über Vipassana:
Vipassana zählt zu den ältesten Meditationstechniken Indiens. Sie wurde vor mehr als 2500 Jahren von Buddha wiederentdeckt. Das Wort Vipassana bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Wesentlicher Bestandteil ist das Erlernen von Achtsamkeit. Die Aufmerksamkeit wird durch die konzentrierte Beobachtung des Atems und Körperempfindungen geschult. Das Erkennen der Unbeständigkeit aller Dinge und das
Überwinden von Leid gehören zu den Hauptsäulen dieser Technik.
(c) Fotos: Mandy Falke
Über die Autorin:
Mandy Falke
Autorin, Journalistin, Psychologiestudentin und spirituell Suchende
Kontakt:
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